Ann-Kristin Riehle | 7. Mai 2020
Wie jeder Student habe ich am Tag der Zeugnisverleihung stolz mein Abschlusszeugnis abgeholt. Immerhin hat man über die letzten Jahre hart gearbeitet und hält nun den Lohn seiner Arbeit, seinen Abschluss und die dazugehörigen Noten, in den Händen. Eine Liste mit Fächern und Zahlen, und eine Urkunde. Das wars. All die Dinge, die ich gelernt habe, mit denen ich mich intensiv beschäftigt habe und wo ich mich entwickelt habe verschwinden hinter Noten. Hinter einfachen Zahlen. Sonst nichts. Je länger ich darüber nachdenke, desto trauriger werde ich, dass die Entwicklung eines jeden einzelnen Schülers und Studenten so reduziert wird, zumeist ohne Erklärungen. Sind wir nicht so viel mehr? Können wir nicht so viel mehr?
Das gilt aber nicht nur auf dem Bildungsweg, auch im Unternehmen werden wir an den Zahlen, die wir produzieren, gemessen. Sie entscheiden darüber, ob wir gut sind oder schlecht, ob wir uns eine Belohnung verdienen oder nicht. Aber hinter jeder einzelnen Zahl steht ein Mensch, der geschätzt werden möchte und so viel mehr in sich trägt, als sich durch unsere Bewertungssysteme widerspiegeln lässt. Vergleichbarkeit heißt es dann. Aber wie kann man einen Mensch mit einem anderen vergleichen, ohne dabei ungerecht zu werden? Wir sind alle so unterschiedlich, so facettenreich, so voller Erfahrungen, Wünsche und Träume. Vielleicht ist der eine bezogen auf das ein oder andere besser geeignet, aber deswegen noch lange nicht wertvoller.
Fehler darf man keine machen, denn sie schlagen sich negativ in den Zahlen nieder, die uns viel zu oft definieren. Wer Fehler macht, ist schlecht. Dabei bieten gerade Fehler ein so großes Potenzial, sich weiterzuentwickeln, und sie können nicht vermieden werden. Und da frage ich mich gerade: wer definiert denn, was ein Fehler ist? Gibt es Fehler überhaupt? Oder ist nicht jeder scheinbare Fehler eine wichtige Stufe in unserer Entwicklung, ohne die es nicht voran gehen würde?
Wie wäre es, wenn man statt der Zahlen den Mensch dahinter in den Vordergrund stellen würde? Wenn nicht so viele scheitern würden, weil sie der gesellschaftlichen Norm nicht entsprechen? Wenn nicht so viele entmutigt werden, weil ihnen gesagt wird, sie seinen nicht gut genug? Unsere Welt wäre eine andere. Eine reichere. Reicher an selbstbewussten Menschen, die wissen, dass die Gesellschaft ihren Beitrag benötigt, dass sie ein wichtiger Teil sind im großen Ganzen, dass sie gebraucht werden, genauso wie sie sind. Und wie können wir uns auf den Weg hin zu einer solchen Welt machen? Indem jeder einzelne von uns sich heute entscheidet, hinter den Menschen, denen wir heute begegnen, mehr zu sehen als Zahlen, Aussehen oder anderen Oberflächlichkeiten. Indem wir nicht bewerten oder abwerten, sondern uns auf das Gegenüber einlassen, wohl wissend, dass in ihm so viel mehr steckt als wir bisher sehen, wissen oder zu erahnen glauben.
Wir sind mehr als nur die Summe unserer messbaren Erfolge, als Umsatzzahlen oder Schulnoten. Wir sind Menschen, deren Potenziale und Fähigkeiten sich nicht auf eine Zahl reduzieren lassen, auch wenn es das einfacher, verwaltbarer und vergleichbarer machen würde. Du bist Du und ich bin ich, wir sind gleichermaßen wertvoll, egal was die Kennzahlen sagen.
Wir sind eben so viel mehr als nur eine Nummer.